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BETTINA LÜDICKE
Präsenz und Freiraum - Drahtskulpturen und -objekte
23.10. - 28.11.2009, Galerie ARTAe Leipzig


Laudatio von der Schriftstellerin Nancy Hünger
gehalten an der Eröffnung am Freitag, 23. Oktober 2009 in der Galerie ARTAe Leizpig

Präsenz und Freiraum

Die psychologische Tatsache, daß durch die Erfahrungen unseres Gesichtssinnes, sei es auch
unter Beihilfe andrer leiblicher Faktoren, die Anschauungsform des dreidimensionalen Raumes
zu Stande kommt, nach der sich alle Wahrnehmungen des Auges und alle anschaulichen Vorstellungen
der Phantasie richten, ordnen und entfalten,- dieser Tatbestand ist auch der Mutterboden der Kunst,
deren Ursprung und Wesen wir suchen.
August Schmarsow


Feingliedrig und filigran, gebunden und geschwungen, Gebilde ganz aus Zwischenräumen,
aus Luft und Draht geformt, geformt aus den dünnen Linienverläufen, dem Spannungsverhältnis
zwischen Körper und Raum, außen und innen, dem noch-nicht oder nicht-mehr einer Berührung:
An diesem instabilen Ort setzt das künstlerische Konzept Bettina Lüdickes an, ein Konzept
das nicht anders als als Raumgewinnung bezeichnet werden kann. Was gewonnen werden will
sind Übersetzungen, Transformationen für die inneren Räume, die Räumlichkeit des Daseins,
die Klaviatur der Empfindungen, die ins Schwingen gerät sobald uns der Raum geschieht,
bewusst wird. Wie uns geschieht, wenn uns die Eindrücke von Ferne und Nähe, Weite und
bedrückender Enge, auch maßloser Freiheit, in innere Erregungszustände übergehen.

Als Ausgangspunkt der Raumgewinnung bestimmt sich der eigene Körper, er dient als Ort,
er reagiert auf Orte und ihre Beschaffenheit, spontan und nichtbegrifflich, durch mehr
oder minder bewusste Regungen, emotionale Indizien. Der Ort ist innen und außen und
er begleitet die Bewegung.

Denn immer ist der Mensch, ist der Körper eingebettet, eingefriedet in der Umgebung,
in den umgebenden Raum, den Umraum, dort bildet sich ein feines Gewirk aus Relationen,
wie das eine aufs andere einwirkt: die sinnlichen Reize, noch die Spannung der Haut
sind Erkundungen, Bewegungen, Verortungen. Den Richtungsachsen des Raumes, die sich
in uns schneiden, spüren die scheinbar schwerelosen skulpturalen Formationen Lüdickes,
gleich Resonanzkörpern, nach. Leicht, beweglich und leuchtend geht es bei ihr zu,
da wird nicht Raum verdrängt, da wird Raum geschaffen. Da wirkt eine verlustlos der
blickdichten Statik entgegen, formt lieber an einer Metaphysik des Lichtes als an der
stoischen Wucht träger Masse. All das geht auf in Punkten und zarten Verästelungen,
aus denen sich ihre Skulpturen scheinbar selbst entbinden, verknäulen, verwachsen zu
organischen Architekturen.

Architektur, möchte ich meinen, ist ehedem ein zentraler Begriff im Werk Lüdickes.
Sie weiß um das Wesen architektonischer Schöpfung, ihre Zellen, Türme, Kuben,
Kokons, all jene Verstofflichungen, vielmehr Versinnlichungen raumbildender,
raumgreifender Zustände, erben bewusst von der Geschichte sakraler Bauten,
beispielhaft aufrufen ließe sich Notre-Dame de Chartres ebensogut wie der Merzbau,
so war es immer die suggestive Führung des Lichtes, die dem Menschen übergehen,
zuletzt eingehen sollte in Ohnmacht oder Größe.

Bei Bettina Lüdicke ist es nicht Führung sondern Entbindung. Das Licht oder auch
das Fehlen von Licht bestimmt sich in ihrem Werk als autonom, als entfesselt.
Das Licht treibt die dynamische Entwicklung der Gebilde voran, es befreit
einerseits von der Statik einer klassischen Skulptur, überführt diese ins Organische,
scheinbar Lebendige, während es - andererseits - die Präsenzeffekte, die wir
skulpturalen Werken abverlangen, und die scheinbar ohne jene stoische Wucht
nicht zustande kommen, schafft durch das Gegenteil: Leichtigkeit. Präsenz durch
schimmernde Gegenwärtigkeit. Lüdicke bedarf keiner monumentalen, keiner
überzeitlichen Gesten. Die Aura, das Zeitlose ihres Werkes, bestimmt sich durch
die bewegliche Vielheit, die darin aufstrahlt, sich zur Erscheinung kristallisiert.
Ihre Arbeiten behaupten sich nicht durch bloße Verdrängung, sie dehnen und
spannen sich schwerelos ins Jetzt.

Leichtigkeit durchdringt auch ihr Verhältnis zur Ordnung, selten gelingt es
die inneren Vorstellungen von Räumlichkeit nachzubilden ohne jenem Ordnungsgefüge
zu willfahren, das doch der Organisation des Kopfes entspricht, einem urwüchsigen
Impuls. Doch hier verzweigt und verknotet sich‘s, führt zusammen, tritt auseinander,
ballt sich, häuft sich, um dann wieder zu entzweigen, sich ins Luftige aufzulösen,
zu zerfließen, grenzgängerisch zwischen Dichte und Leere, gegen die Abstraktion
einer Geraden, das äußerste Ideal, Meridian unseres Leibes, wölbt sich die Linie
und biegt sich noch wo sie nach oben wächst gegen die Vertikale, weil sie auch
zu den Seiten ausbricht. Es sind keine simpel konstruierten Gebilde mathematischer
Klausur, ebensowenig sind es Gebilde alogischer Struktur, die nur die Willkür
reihte, sie bestimmen ihr eigenes Ordnungsgefüge und dass immer wieder erneut,
denn alles ist an ihnen mitbildend: der Umraum, die Lichtverhältnisse, so auch
der Betrachter, er ist wortwörtlich mitverantwortlich. Seine Bewegungen
übertragen sich auf die scheinbar ruhenden Raumverhältnisse, der Ort ist innen
und außen und er begleitet die Bewegung. Die sichtlich gespannten Resonanzkörper
reagieren, reagieren auf den Betrachter, denn um eben dieses Wechselspiel ist
es Lüdicke bestellt.

Ich möchte meinen, der Mensch sehr allgemein, samt seines Empfindungsvermögens,
steht im Mittelpunkt ihres Werkes. Was sich da ausbildet ist nicht allein ein
versinnlichtes Spannungsverhältnis zwischen Raum und Körper, sondern ebenso
ein Verhältnis zwischen einzelnen Körpern, die zusammenfinden und auseinanderstreben,
sich berühren und abstoßen. Ich las von Einheit und Zweiheit und Vielheit, davon
wie zwei eigentlich autonome Formen, also ich und du, verschmelzen, auch dies
ein Ideal, das weit mehr als ein erotisches Sinnbild ist, da es mit Leichtigkeit
rückführbar ist auf das große Ganze, sagen wir Gesellschaft, sagen wir das
entfremdete Subjekt gegenüber der allumfassenden Masse. Wie fügen sich disparate
Kategorien, Körper zusammen? Wie können widerstrebende Vereinzelungen ein
organisches Ganzes bilden? Das sind durchaus sehr große, sehr wagemutige Fragen,
auch sie sind Mutterboden der Kunst, da darf es nicht dogmatisch zugehen, da
müssen die Antworten sehr leis' und beweglich, müssen Andeutungen, Ausdeutungen
sein, müssen stets dem Widerruf ausgesetzt werden.

Was standhält geht ein in den künstlerischen Prozess Lüdickes, verändert sich
wieder, zeugt sich fort, das ist ein stetes Werden und Wachsen, das gedeiht nur
aus Hingabe, dem einvernehmlichen Vertrauen auf die Intuition, denn nur wo das
Unvorhergesehene seinen Platz hat, kann Kunst entstehen. Gleich den fortzweigenden
Linien, die an keinem Punkt zum Stillstand kommen, sich gemäß dem tatktilen
Sinn der Künstlerin verknäulen, verwickeln zum Raum im Raum im Raum und
feinfühlig die eigene Form, die eigenen Grenzen ausdefinieren. Die Form ist der Raum.

Nancy Hünger, Schriftstellerin, Erfurt Oktober 2009